Meine Wenigkeit ist seit mehr als 24 Jahren aktiv im Netz unterwegs und daher habe ich einige der Internet- und Web-Trends miterlebt: die Gnade der frühen Geburt. Bei einigen lediglich als interessierter Beobachter, und bei manchen habe ich aktiv mitgemacht. Für viele Menschen hat das Web eine Tür zu einer neuen, vielversprechenden Welt geöffnet. Es wurden auf einmal viel mehr Informationen verfügbar, zu denen theoretisch jeder Zugang hatte. Für viele Menschen eröffnete sich die Möglichkeiten, mit eigenen Inhalten Menschen zu erreichen, die ihnen vorher nicht zur Verfügung standen. Diese Freiheit und die Demokratisierung beim Zugang zu Wissen und Informationen oder beim Zugang zu Publikum hat das WWW so schnell so populär gemacht.
Allerdings gibt es seit einigen Jahren eine Entwicklung, die nicht nur mich alleine, sondern viele Menschen besorgt. Es geht hierbei speziell um die Schattenseiten der sozialen Netzwerke. Ich stelle mir seit längerer Zeit die Frage, ob die sozialen Netzwerke den konstruktiven und verbindenden Geist des Webs zerstört haben?
Die Begriffe Internet und Web werden häufig als Synonyme verwendet, was an sich nicht schlimm, aber auch nicht ganz richtig ist. Das WWW (World Wide Web) ist ein Dienst innerhalb des Internets: also eine Teilmenge. Zum Internet gehören noch weitere Dienste wie etwa E-Mail, Usenet (Newsgroups), FTP, Telnet oder SSH.
Am Anfang war Web 1.0, aber das hat uns damals keiner gesagt
Das, was wir heute rückwirkend als Web 1.0 bezeichnen, hat sich in Deutschland in etwa seit Mitte der 1990er-Jahren bis etwa 2004/2005 abgespielt. Ebenfalls rückwirkend empfinden viele diese Zeit als statisch und eindimensional, weil es nicht so viel Auswahl und Angebote wie heute gab.
Aber das ist auch kein Wunder. Die PCs waren die einzigen Zugangsgeräte und in sehr vielen Haushalten nicht verfügbar. Falls es einen Internetzugang gab, was nicht selbstverständlich war, dann war man mit 33 oder 56 kbit im Netz unterwegs. Während der Zeit war Telefonieren nicht möglich und die Kosten mussten gut im Auge behalten werden.
HTML war für viele absolutes Neuland, und das Angebot an Redaktionssystemen war überschaubar und in der Regel in Perl geschrieben. Vor allem die Perlscripte waren dafür berüchtigt, dass sie die Nutzer schon bei der Installation in den Wahnsinn trieben. Es hat schon seine Gründe, warum sich Systeme wie WordPress später so schnell durchsetzen konnten.
Dennoch gab es auch zu dieser Zeit viel interessanten und unabhängigen Content. Beliebt waren – zumindest in der Tech-affinen Szene – die Newsgroups. Im Grunde genommen waren das die Vorläufer der Foren. Arg textlastig und von der Anmutung erinnerten sie an E-Mails in reinem Textformat, aber sie hatten auch ein paar Vorteile. Man fand dort Antworten zu vielfältigen Themen und dadurch, dass sie nur aus Text bestanden und keine Bilder o. ä. enthielten, konnte man diese Informationen auch in einer annehmbaren Zeit und einem annehmbaren Kostenrahmen genießen.
Damals gab es keine Flatrates und man war gezwungen, die Zeit, die man im WWW verbrachte, doppelt zu zahlen: einmal die Telefonkosten und dann noch die Internet-Zeit. Da man mit 56 kbit theoretisch nur maximal 7 KByte pro Sekunde erreichen konnte, war jegliche Volumen- und damit Zeit-Einsparung im wahren Sinne des Wortes Geld wert.
Neben den Newsgroups gab es auch im Web vielfältigen Content. Die webbasierten Forensysteme und unabhängige, kleine Websites sprossen wie Pilze aus dem Boden und auch die ersten kleinen Webshops etablierten sich.
Dennoch spürte man schon ab 2001 und spätestens 2003, dass es irgendwie weitergehen musste. Es kommt nicht von ungefähr, dass Wikipedia im Jahr 2001 und WordPress 2003 „geboren“ wurden. Immer mehr Menschen bekamen einen Internet-Zugang, die Geschwindigkeit in den Leitungen wurde zunehmend höher und die Kosten wurden erschwinglicher. All dies machte es möglich, den nächsten Schritt zu gehen.
Web 2.0 war ein großes und schönes Versprechen von einer neuen Web-Welt
Das, was sich schon ein bis zwei Jahre vorher abgezeichnet hatte, wurde im Dezember 2003 mit dem Namen Web 2.0 gekennzeichnet. Richtig bekannt wurde der Begriff allerdings erst im September 2005 durch einen Artikel von Tim O’Reilly.
Web 2.0 versprach noch demokratischer und vielfältiger zu werden und noch mehr Menschen eine aktive Teilhabe zu ermöglichen. Während im Web 1.0 die allermeisten Nutzer relativ passive Konsumenten waren, sollte der Anteil an aktiven Nutzern steigen. Aus Konsumenten sollten Produzenten werden.
Und das passierte tatsächlich. Viel mehr Menschen wurden aktiv und hierbei haben die Weblogs eine zentrale Rolle eingenommen. Vor allem dank WordPress, aber auch einigen anderen Systemen, war es vergleichsweise einfach, einen Blog einzurichten und loszulegen. Die Rolle von WordPress und Weblogs kann bei der Entstehung des Web 2.0 nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Durch die Weblogs kam es nicht nur zu mehr Inhalt, der Inhalt wurde tatsächlich auch deutlich vielfältiger. Sicherlich, nicht alles war preisverdächtig, aber viele Weblogs wurden zu einer wertvollen Wissensquelle.
Aber das war nicht alles. Die Blogger vernetzten sich untereinander. Hierbei haben RSS bzw. Newsfeeds und die Ping- und Trackbacks eine wertvolle Aufgabe geleistet. Durch diese Vernetzung kam es auch zu diversen Veranstaltungen, die man heute noch kennt: Webmontage und Barcamps.
Diese Umwälzungen passierten in den Jahren 2004 und 2005. Danach war das Web ein ganz anderer Ort. Das Web von Anfang/Mitte 2003 und das Web von Ende 2005 trennten Welten.
Soziale Netzwerke und Smartphones: Fluch und Segen
Schon recht früh gab es soziale Netzwerke und deren Vorläufer. MySpace startete 2003, Facebook im Februar 2004 und Twitter im März 2006. Aber deren Durchbruch in den Mainstream passierte erst deutlich später. Bei Facebook war das erst ab 2009, als unter anderem die Like-Funktion hinzugefügt wurde. Twitter war nach meiner Beobachtung noch bis Anfang 2009 eine Spielwiese oder besser gesagt, das „gemütliche Auenland“ für Nerds und andere IT-affine Menschen. Erst ab da entdeckten zunehmend auch Politiker und Journalisten Twitter und nutzten es nicht nur zur Kommunikation – die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken wurde immer wichtiger.
Hilfreich für den ersten großen Popularitätsschub für Facebook und Twitter, aber vor allem für die Verbreitung in den Jahren danach, war die Tatsache, dass ab 2009 und 2010 auch die Smartphones immer größeren Absatz fanden. Sie wurden langsam, aber sicher zum ständigen Begleiter für viele Menschen. Mit den immer günstigeren und leistungsfähigeren Smartphones waren die Nutzer in der Lage, auch von unterwegs, etwa bei Ereignissen wie Konzerten oder Demonstrationen Texte, Bilder und Videos zu veröffentlichen.Die Stärke von Facebook und Twitter konnte man bei diversen sehr dynamischen Ereignissen live mitverfolgen. Dazu zählen u. a. der Aufstand in Ägypten im Januar 2011 innerhalb des Arabischen Frühlings, die Katastrophe von Fukushima im März 2011 oder diverse Wahlen. Hier waren Facebook, aber noch mehr Twitter deutlich schneller als auch die bestens ausgestatteten News-Sender, sodass es nicht selten vorkam, dass die Sender die Inhalte aus sozialen Netzwerken als Quelle übernahmen.
Auch Google musste sich von der Dynamik der beiden Netzwerke geschlagen geben und so kam es dazu, dass Google 2015 mit Twitter eine Kooperation abschloss. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war, dass Tweets eine gewisse Zeit lang prominent in den Suchergebnissen angezeigt wurden. Mittlerweile werden die Tweets in den Suchergebnissen von Google gar nicht mehr angezeigt.
Aber damit fingen auch schon die ersten Probleme an. Starke Vernetzung innerhalb von Facebook und die Dynamik von Twitter gepaart mit dem jeweiligen Algorithmus, der provokative Themen belohnt und pusht, führte dazu, dass bei gewissen Themen, wie etwa bei Politik, die beiden Netzwerke zu einer Schlangengrube wurden.
Recht gut konnte man dies beim Brexit und der US-Wahl 2016 sehen. Hierbei sei besonders der Vorfall um die Firma Cambridge Analytica genannt. Auf Netzpolitik.org gibt es zu diesem Thema einen ausführlichen Beitrag: Was wir über den Skandal um Facebook und Cambridge Analytica wissen.
Die starke Polarisierung und Desinformation hat bei der Politik nicht haltgemacht, sondern hat sich nach und nach auch auf andere Bereiche ausgebreitet. So wurden und werden etwa von bestimmten Tierrechtsaktivisten gegen Jäger und gegen Tierärzte gehetzt und auch zu Straftaten gegenüber diese beiden Gruppen aufgerufen.
Mit der Corona-Pandemie ist das alles noch deutlich schlimmer geworden. Wer sich ein Bild machen möchte, der kann sich irgendeinen Beitrag eines öffentlich-rechtlichen Senders zu diesem Thema aufrufen und dann die Kommentarspalte anschauen. Beispielhaft dafür wäre dieser Facebook-Beitrag vom SWR. Manche Menschen glauben an die abstrusesten Verschwörungstheorien und verbreiten diese auf Facebook und auch auf Twitter.
Dass mit Twitter, aber vor allem mit Facebook einiges im Argen liegt, ist nicht nur meine bescheidene Meinung. Die Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa sieht in Facebook eine große Gefahr für die Demokratie, da die Algorithmen der Plattform eher Lügen und Hass streuen würden, als Fakten zu verbreiten.
Apropos Fakten. Mir ist es vor einigen Tagen zum dritten Mal in zwei Monaten passiert, dass ein Kommentar bei Facebook wegen „Community Richtlinien“ gesperrt wurde. Was war passiert? Jemand hat etwas geschrieben, was nachweislich falsch war. Ich habe in den Kommentaren Verweise zu Wikipedia, Studien und anderen wissenschaftlichen Seiten eingefügt. Das war ausreichend, damit Facebook meine Kommentare blockiert. Zwei Bekannten von mir ist das in der Vergangenheit ebenfalls passiert und ich habe das, bevor es mir passierte, einfach für ein Gerücht gehalten, weil ich es mir einfach nicht vorstellen konnte.
Aber die Journalistin Maria Ressa ist nicht die einzige Prominente, die vor Facebook warnt. In diesem Jahr hat eine Facebook-Whistleblowerin vor dem US-Kongress ausgesagt:
„Ich heiße Frances Haugen. Ich habe bei Facebook gearbeitet, […] Heute sitze ich vor Ihnen, weil ich überzeugt bin, dass Facebook gefährlich ist für unsere Kinder. Es sät Zwietracht und schwächt unsere Demokratie.“
Einen ausführlichen Artikel über diese Frau und die Aussage kann man auf der Website der Tagesschau nachlesen.
Aber gegenüber Facebook und Twitter formiert sich immer wieder auch Widerstand. Im Sommer 2020 haben in den USA mehr als 1.000 Firmen mehrere Wochen keine Anzeigen mehr auf Facebook geschaltet. Unter den Firmen befanden sich auch Schwergewichte wie Adidas, Puma, Coca-Cola, Ford, HP, Lego oder Volkswagen. Dieser 2020 Facebook ad boycott hat dazu geführt, dass Facebook auf einige der Forderungen eingegangen ist, u. a. mehr gegen Hetze und Falschinformationen zu tun.
Es gibt also nicht nur etliche Menschen, die Facebook & Co. komplett den Rücken kehren oder das Engagement auf ein Minimum reduzieren. Es gibt auch Firmen, die dies machen. So hat sich die Firma Lush komplett aus den sozialen Netzwerken zurückgezogen. Die Firma hat diese Entscheidung damit begründet, dass die sozialen Medien massive Schäden bei Jugendlichen hervorrufen können. Dass dies kein PR-Stunt ist, kann man relativ sicher ausschließen, da die Firma durch diesen Schritt 13, 3 Millionen US-Dollar Verluste gemacht hat.
Trotz dieser Widerstandsversuche bleibt hauptsächlich Facebook nach wie vor problematisch, und zwar auf mehreren Ebenen. Im April dieses Jahres wurde publik, dass es ein großes Datenleck bei Facebook gab. Es wurden Daten von mehr als 533 Millionen Nutzern entwendet.
Weiterhin hat Facebook kein Problem damit, an Werbekampagnen zu verdienen, die von Impfgegnern und Holocaust-Relativierern stammen. Bei diesem Beispiel hat es Facebook auch nicht gestört, gegen eigene Richtlinien zu verstoßen. Aber leider ist es so, dass fast alle sozialen Netzwerke Probleme mit antisemitischen Inhalten haben.
„Ach komm, so schlimm sind Facebook & Co. doch nicht!“
Wenn Sie jetzt denken, ich wäre bis jetzt im Artikel gegenüber den sozialen Netzwerken und vor allem Facebook unfair gewesen, dann muss ich dem widersprechen und darauf hinweisen, dass ich mich noch vornehm zurückgehalten habe.
Die Netzwerke haben massive Probleme nicht nur mit Hetze und Desinformationen oder mit dem Datenschutz bzw. Datenlecks, sondern verursachen auch große Probleme bei Jugendlichen in Bezug auf die eigene Körperwahrnehmung. Die Gefahr droht hier nicht nur durch Instagram (Instagram schadet jungen Mädchen), sondern auch durch die anderen sozialen Netzwerke, wie man u. a. im Artikel Soziale Medien verändern Blick auf den Körper. Alle glatt, strahlend, perfekt von Deutschlandfunk nachlesen kann.
Es kommen aber noch weitere Schattenseiten hinzu. Das Versprechen von Web 2.0 war mehr Beteiligung und dadurch ein demokratischeres Web als vorher. Von etwa 2004 bis ca. 2010 mag das auch so gewesen sein. In den unzähligen Weblogs wurde nicht nur viel Inhalt publiziert, sondern in den Kommentaren auch viel diskutiert. Alles war viel offener und dezentraler. Durch die Verbreitung der sozialen Netzwerke hat sich die Diskussion zu den sozialen Netzwerken verlagert, auch Weblogs mit hohen Besucherzahlen verzeichnen seit einigen Jahren keine bis nur wenige Kommentare.
Aber auch viele Inhaltsproduzenten sind zu den sozialen Netzwerken abgewandert. Ich sehe auf Facebook, LinkedIn und sogar auf Twitter viele Leute, die dort ganze Artikel veröffentlichen, aber kein Weblog haben, oder nur den Bruchteil an Inhalten auf eigenen Websites publizieren.
Die Verlagerung von Diskussionen und auch von Inhalten zu wenigen großen Playern ist allerdings alles andere als dezentral. Zumal man viele der Inhalte auf LinkedIn, Facebook und auch zum Teil auf Twitter nur dann lesen kann, wenn man dort einen Account hat. Somit sind diese Plattformen auch nicht offen.
Ich kann lediglich die Probleme benennen, aber eine wirkliche Lösung kann ich nicht anbieten. Zumindest bei Facebook wäre eine mögliche Zerschlagung, wie Teile der US-Regierung sie planen, ein gangbarer Weg, um die geballte Marktmacht zumindest etwas zu verteilen.
Auch eine Enteignung wäre vorstellbar, der Beitrag Wie Facebook weltweit Demokratien zerstört des TV-Magazins ZDF Magazin Royale kommt zu diesem Schluss.
Haben soziale Netzwerke das Web zerstört? – Und was nun?
Es kann gut ein, dass meine Ausführungen Sie nicht überzeugt haben. Es kann auch gut sein, dass Sie einige positive Aspekte von den sozialen Netzwerken und Facebook ins Feld führen. Aber auch wenn man sich die Sache nüchtern anschaut und die positiven Aspekte großzügig betrachtet, kommt man nicht umhin, den jetzigen Zustand dieser Netzwerke zu kritisieren und massive Verbesserungen einzufordern. Die sozialen Netzwerke mögen für einige nicht das Web zerstört haben, aber sie haben ihm eine starke Schlagseite verpasst.
Allerdings dürfen wir uns als Nutzer nicht oder nicht allein auf den Staat oder seine Organe verlassen. Der Staatsapparat – das konnten wir zuletzt bei der Pandemie gut beobachten – ist sehr träge und neigt dazu des Öfteren das Kind mit dem Bade auszuschütten (Stichwort Cookie-Richtlinie).
Wir Menschen sind soziale Wesen, aber es sind gewisse Regeln notwendig. Das Web ist zum Teil auch das, was wir Nutzer daraus machen. Daher ist mein Appell: Verbringt möglichst etwas weniger Zeit in den Netzwerken und betätigt euch selbst. Installiert ein Weblog und füllt ihn mit Inhalten. Falls euch das Schreiben nicht liegt, dann startet einen Podcast oder produziert Screencasts und veröffentlicht diese nicht nur auf den üblichen Plattformen, sondern auch auf eurem Weblog. Seid ein Teil des ursprünglichen und konstruktiven Web 2.0. Viel Spaß dabei!
Titelmotiv: pixabay
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