Ich habe eine Aufgabe für Sie: Kennen Sie die typischen Symptome eines Herzinfarktes? Sicherlich kommen Ihnen sofort in den Sinn: Schmerzen, Engegefühl, der Griff zur Brust und die Ausstrahlung der Schmerzen in den linken Arm. Die meisten von uns können aus dem Stegreif aufzählen, woran man einen Herzinfarkt erkennen kann. Und das ist gut so, denn ein schnelles Handeln der Umstehenden ist für das Überleben eines Herzinfarkt-Patienten von größter Wichtigkeit. Wenn Sie einen Herzinfarkt beobachten, sollten Sie unverzüglich den Notarzt informieren und erste Hilfe leisten.
Was glauben Sie nun, welcher Notfall durch die folgenden Symptome ausgelöst werden könnte: Kurzatmigkeit und Atemnot, Übelkeit, Schmerzen im Oberbauch, Schmerzen im Hals- und Nackenbereich und möglicherweise eine Ohnmacht? Genau. Das sind die Symptome eines Herzinfarktes bei einer Frau. Hätten Sie das gewusst? Falls nicht, machen Sie sich keinen Vorwurf. Google selbst liefert bei der Suche nach „Symptome Herzinfarkt“ default die männlichen Symptome zurück. Kein Wunder also, dass Herzinfarkte bei Frauen bedeutend seltener erkannt und entsprechend behandelt werden.
Der Suchgigant ist nicht nur im Bereich von Krankheitsbildern mit einem Gender-Bias belegt: Auch die Suche nach Berufen ist nicht geschlechtsneutral. Während die Suche nach „Anwalt“ zu einer Google Maps-Einblendung above the fold – also im sichtbaren, gut konvertierenden Bereich – führt, liefert die Suche nach „Anwältin“ zunächst einmal die Wörterbuch-Einbindung, die darüber aufklärt, dass „Anwältin“ die weibliche Form von „Anwalt“ ist. Die Maps-Einblendung mit direkten Links zu lokalen Anbieterinnen erscheint erst nach dem Scrollen und ist damit weniger präsent als im männlichen Fall.
Als weiblicher Anwalt bleibt mir im Hinblick auf SEO demnach nichts anderes übrig, als mich selbst als „Anwalt“ auf meiner Website vorzustellen. Nur so kann ich es erreichen, die starken Keywords abzugreifen. Wer sich für die Thematik tiefergehend interessiert, sollte auf entsprechende Postings und Veröffentlichungen von Malte Landwehr achten. Malte ist Head of SEO bei Idealo und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Gender Bias von Google. Eine schöne Zusammenfassung zum Thema kann man im Interview mit ihm bei Lexoffice nachlesen.
Was hat das nun alles mit Marketing zu tun?
Eine Nielsen-Studie von 2016 zeigt, dass 89 Prozent der Frauen weltweit angeben, für die Hauptaufgaben des Haushaltes wie Einkaufen und Kochen verantwortlich zu sein. Das bedeutet auch: Sie treffen zu fast 90 Prozent die Kaufentscheidungen für alle notwendigen Fast Moving Consumer Goods. Und auch wenn Frauen die Hauptlast im Haushalt tragen, haben sich längst klassische Rollenbilder aufgelöst.
So sind in Deutschland laut statistischem Bundesamt knapp 50 Prozent der Erwerbstätigen weiblich, die Zahl der weiblichen Hochschulabsolventen liegt mit 51 Prozent sogar über der der männlichen Akademiker. Wie Ernst & Young in einem Paper prophezeien, werden Frauen im Jahr 2028 75 Prozent der globalen Kaufentscheidungen treffen. Und dies betrifft nicht nur Haushaltswaren und Lebensmittel. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Sylvia Ann Hewlett sieht dies ähnlich:
Spiegelt sich der Anteil der Frauen an Kaufentscheidungen und ihre immer stärker werdende Kaufkraft in der Werbung wider? Ein Blick auf die Veröffentlichungen des deutschen Werberates lässt vermuten, dass dies nach wie vor nicht der Fall ist. Noch immer ist Sexismus der Hauptgrund für eingehende Beschwerden, insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. „Sex sells“ hat sich in den Köpfen festgebrannt und führt immer wieder zu irritierenden Fehlgriffen bei der Wahl von Werbebotschaft und Anzeigenmotiv.
Die Zahlen der eingehenden Beschwerden beim Werberat aufgrund sexistischer Anzeigenmotive sind allerdings rückläufig. So scheint es eine zunehmende Sensibilisierung bei Werbetreibenden im Hinblick auf geschlechterdiskriminierende Werbung zu geben. Es stellt sich jedoch die Frage: Ist eine Werbung im Hinblick auf die Kaufkraft der Frauen automatisch erfolgreich, wenn sie nicht sexistisch ist? Oder sollten wir vielmehr Frauen als Zielgruppe klar erkennen und ansprechen, auch in Bereichen, wo wir sie vielleicht nicht als Haupt-Käufer identifiziert haben? Eine Studie aus 2018 der University of Sussex und der Aarhus University in Denmark zeigt beispielsweise auf, dass gut ausgebildete Frauen ein noch unerschlossener, aber potenziell lukrativer Markt für den Verkauf von Elektroautos darstellen, da sie ein größeres Umwelt- und Kraftstoffverbrauchsbewusstsein haben als Männer. Elektroautowerbung gezielt für Frauen – eine spannende Überlegung, finden Sie nicht?
Sicherlich gibt es für jede Branche eigene Zahlen und dezidierte Targetgroups. Lohnend ist es jedoch allemal, die eigenen Marketingaktivitäten hinsichtlich der Geschlechterausrichtung zu überprüfen und sich zu fragen, ob man der großen und wachsenden weiblichen Kaufkraft entsprechend Tribut zollt. Zumindest sollte man sich bei der Definition der eigenen Zielgruppen nicht auf die Suchvolumina bei Google verlassen. Die Tatsache, dass „Anwalt“ 49.500 mal pro Monat gesucht wird, „Anwältin“ aber nur 3.600 mal, lässt Rückschlüsse auf unser Suchverhalten, nicht aber auf die Größe der Marketingzielgruppe zu. Auch wenn Frauen in gewissen Datenbanken unterrepräsentiert sind – als Zielgruppe sind sie vorhanden und kaufkräftig und wollen von Werbebotschaften entsprechend angesprochen werden.
Diversity Marketing – wo stehen wir?
Vor drei Jahren wurde die Imagekampagne der Deutschen Bahn und der verantwortlichen Agentur Ogilvy zu einem Politikum, nachdem Boris Palmer in einem Facebook-Post nachfragte, welche Gesellschaft hier abgebildet werden soll:
Offensichtlich zeigte die Bahn in ihrer Headergrafik nach Palmers Ansicht zu wenige „typische Deutsche“. Tatsächlich zeigt die Grafik den deutschen TV-Koch Nelson Müller, der bereits als Kleinkind nach Deutschland kam, die in Köln geborene Moderatorin Nazan Eckes und den deutsch-finnischen Rennfahrer Nico Rosberg. Palmers Beitrag bei Facebook provozierte knapp 4.500 Kommentare, viele davon kritisch, aber auch über 1.600 Likes. Ist ein solcher Eklat angebracht, wenn wir unsere Gesellschaft rein statistisch betrachten?
2021 hatten in Deutschland 27,2 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, das heißt, die deutsche Staatsbürgerschaft wurde bei der betreffenden Person oder bei mindestens einem Elternteil nicht durch Geburt erworben. Zusätzlich werden BIPOC häufig fälschlicherweise als Ausländer wahrgenommen, obwohl sie eine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Die deutsche Gesellschaft ist vielfältig – zeigt unser Marketing das? Und: Wollen die Kunden das überhaupt?
Eine Kurz-Studie von YouGov zeigt, dass ernstgemeintes Diversity-Marketing insbesondere bei einer jüngeren Zielgruppe der GenZ und GenY sehr gut ankommt. Diversity ist gerade bei jüngeren Menschen ein wichtiges Thema. Diese Zielgruppe möchte sehen, dass Unternehmen die eigenen Werte teilen und entsprechend kommunizieren. Die Studie zeigt aber auch sehr deutlich, dass Social Washing oder auch Green Washing den gegenteiligen Effekt hat. Präsentiert sich ein Unternehmen diverser, als es tatsächlich ist, schlägt der Werbeeffekt in die gegenteilige Richtung aus. Die Kernmessage ist demnach: Kommuniziere als Unternehmen klar Deine Werte. Und handle entsprechend.
Barrierefreiheit – ein hübsches Add-on?
Wussten Sie, dass 9,3 Prozent der deutschen Bevölkerung schwerbehindert sind? Das ist fast jeder Zehnte. Überrascht Sie das? Möglicherweise ja, denn Menschen mit Behinderung sind immer noch bedeutend weniger sichtbar, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen würde. Das liegt auch daran, dass viele Bereiche für behinderte Menschen schlicht nicht zugänglich sind. Vielleicht treffen wir Menschen im Rollstuhl deshalb seltener beim Einkaufen, da die meisten Läden nur über ein, zwei Treppenstufen und eine schmale Eingangstür erreichbar sind und nicht, weil es de facto so wenige Rollstuhlfahrer gibt?
Übertragen Sie diese Zahlen einmal auf Ihren Onlineshop. Ist Ihre Zielgruppe tatsächlich überwiegend unter 60? Oder kann es vielleicht sein, dass Ihre Website für Menschen ab einem gewissen Alter nicht mehr zu bedienen ist? Fast die Hälfte der europäischen Bevölkerung ist beispielsweise von Altersweitsicht betroffen. Bereits ab dem 40. Lebensjahr verschlechtert sich die Sicht der betroffenen Personen, so dass sie Dinge oder Text in der Nähe nur noch schwer erkennen können. Was bedeutet das nun für eine Website, die nicht barrierefrei ist?
Möglicherweise ist der Text Ihres Angebotes auf dem Smartphone für Menschen über 40 (das sind über 57 Prozent der deutschen Bevölkerung) gar nicht lesbar. Mit Browser-Add-ons können Sie sich Ihre Website aus der Sicht von Menschen mit Sehbehinderung anzeigen lassen. Der Chrome Browser bietet hier z.B. unter dem Navigationspunkt „Rendering“ die Funktion „Sehschwächen emulieren“ an. Es ist gut möglich, dass Sie danach Ihre Verkaufszahlen mit anderen Augen sehen! Bei Aktion-mensch.de findet sich eine schöne Übersicht zu den Vorteilen von barrierefreien Websites:
Wie Aktion Mensch herausstellt, ist gerade die Gruppe der schwerbehinderten Menschen eine weit unterschätzte Nutzergruppe im Internet, da sie überdurchschnittlich intensiv Online-Angebote nutzen. Für Ihr E-Commerce bedeutet das: Jeder 10. Besucher ist darauf angewiesen, dass Ihr Shop barrierefrei ist, da er oder sie ihn sonst überhaupt nicht nutzen kann.
Im Hinblick auf diese Zahlen sollte eine barrierefreie Website ein No Brainer sein. Wer möchte schon auf einen potenziellen Umsatz von 10 Prozent verzichten? Die Realität sieht allerdings ganz anders aus. Beim jährlichen WebAIM Million Report zeigt sich erneut: 98 Prozent der untersuchten Websites sind nicht barrierefrei. Datengrundlage sind die eine Million nach Majestic meistreferenzierten Websites der Welt, von denen nur zwei Prozent keine Mängel im Hinblick auf Zugänglichkeit für behinderte Menschen aufweisen. Das häufigste Problem im Netz stellt dabei der mangelnde Kontrast zwischen Text und Hintergrund dar:
Dabei lässt sich dieser Mangel sehr komfortabel mit dem kostenfreien Online-Tool contrast-ratio.com überprüfen. Es empfiehlt sich hier, auch die eigene CI-Guideline auf ausreichend Kontrast hin zu überprüfen, um diesen Mangel von vornherein auszuschließen.
Auf Platz 2 der häufigsten Accessibility-Mängel landet der Fehler „fehlende Alt-Texte bei Bildern“. Hier spielt eine angestrebte Barrierefreiheit auch einer SEO in die Hände. Aussagekräftige Alt-Texte im Alt-Attribut von Bildern helfen Menschen mit Behinderung, sie haben aber auch einen positiven Einfluss auf das Ranking des Bildes und damit möglicherweise der Seite, auf der das Bild eingebunden ist.
Generell gehen Barrierefreiheit und SEO häufig Hand und Hand. Dies ist selbsterklärend, führt man sich vor Augen, dass Google jedem Nutzer das bestmögliche Ergebnis liefern möchte. Natürlich möchte Google dabei die 10 Prozent der Nutzer nicht ausschließen, die auf eine barrierefreie Website angewiesen sind. Auch wenn Google Accessibility offiziell nicht als Rankingfaktor listet, macht ein Blick auf die folgenden, am häufigsten auftretenden Accessibility-Mängel den Zusammenhang zwischen SEO und Barrierefreiheit deutlich: Fehlende Anchortexte und leere Buttons sind auch für SEO ein No Go, eine fehlende Dokumentsprache kann ein Stolperstein für SEO sein. Wir tun also gut daran, bei der SEO auch auf Barrierefreiheit zu achten. Eine schöne Übersicht zum Thema liefert Ruth Everett bei Search Engine Land.
User Blindness – Fazit: Hinschauen lohnt sich!
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es lohnt, die eigenen online und offline Marketingaktivitäten kritisch zu hinterfragen. Spreche ich meine Zielgruppe korrekt an? Und noch viel wichtiger: Weiß ich überhaupt wirklich, wer meine Zielgruppe ist? Oder habe ich beispielsweise nur deshalb schlechte Verkaufszahlen in einem bestimmten Segment, da ich dieses Nutzerpanel unbewusst ausschließe? Dies kann durch meine Anzeigenmotive passieren oder durch die fehlende Bedienbarkeit meiner Website.
Ein erster Schritt im Online Marketing kann demnach ein Audit auf Barrierefreiheit sein. Dies kann schnell und kostenfrei mit Tools wie der WAVE Browserextension erfolgen. Wie bereits erwähnt, helfen viele Verbesserungen im Hinblick auf die Accessibility auch den SEO-Anstrengungen, von daher sollten Bestrebungen, eine Website barrierefrei zu gestalten, zur Standard-Klaviatur im Online Marketing gehören.
Ganz unabhängig von Verkaufszahlen und Umsatz sollte es unser Bestreben sein, Nutzergruppen nicht auszuschließen, sondern das bestmögliche Angebot für jeden User bereitzustellen. Einer gewissen Betriebsblindheit können wir mittels diverser Nutzerbefragungen vorbeugen. Und noch nachhaltiger ist es, das eigene Team divers aufzustellen, wie unzählige Studien belegen. Für „blinde Flecken“ im Hinblick auf Sehschwächen gibt es Tools wie NoCoffee – für blinde Flecken in der Unternehmensführung gilt: Hinschauen und hinterfragen lohnt sich.
Titelmotiv: Photo by Ante Hamersmit on Unsplash
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