Denkt man an Digitalisierung, ist die Pflegebranche nicht der erste Bereich, der einem in den Sinn kommt, aber auch hier ist viel in Bewegung. Im Sommer 2020 machte sich Evenly auf, für den Pflegedienstleister domino-world eine digitale Version des patentierten domino-coaching Modells in Form einer App zu schaffen. Dabei entdeckten wir viel Potenzial, aber auch sehr spezifische Herausforderungen. Viele der Learnings, die wir aus dem Projekt mitgenommen haben, lassen sich auch auf andere Branchen übertragen und können damit als Leitfaden für andere Digitalisierungsprojekte dienen.
domino-world ist ein 1982 damals in West-Berlin gegründeter Pflegedienstleister. Mittlerweile gehören 850 Mitarbeiter*innen zu domino-world, verteilt auf insgesamt 13 ambulante und stationäre Einrichtungen in Berlin und Brandenburg. Täglich werden 2.500 Patient*innen betreut.
Das Herzstück der Pflegephilosophie ist das im Jahr 2000 eingeführte domino-coaching Modell. Der domino-coaching Prozess begleitet Patient*innen über den gesamten Pflegeverlauf hinweg. Bei der Erstaufnahme werden Patient*innen anhand verschiedener Assessments (z.B. Mini-Mental-State-Examination und Geriatrische Depressionsskala) in ein Pflegemodell eingeordnet (Standard-, Depressions- oder Demenzmodell). Die Patient*innen werden umfassend begutachtet, auf dieser Basis entstehen Therapieempfehlungen und Therapieziele, die in regelmäßigen Abständen evaluiert und ggf. angepasst werden. Ebenfalls Teil des Prozesses ist die Weitergabe von Informationen an behandelnde Ärzt*innen und Angehörige, die Koordination verschiedener Coaches, die Übergabe von Patient*innen und die Supervision der Coaches durch Teamleitung und Pflegedienstleitung sowie eine monatliche Statistik über geleistete Coachings.
Bis 2020 wurde der domino-coaching Prozess komplett auf Papier durchgeführt, die Formulare wurden per Hand ausgefüllt, die Daten später ebenfalls manuell weiter übertragen. Die Schwerfälligkeit und der hohe Aufwand des Prozesses führten dazu, dass Coaches die Idee einer domino-coaching App mit einem ersten Konzept an die Geschäftsführung pitchten. Der gesamte domino-coaching Prozess sollte für die Coaches innerhalb der App machbar werden. Die Feinkonzeption, Design und Umsetzung dieser App übernahm Evenly.
Nach gründlicher Überlegung und Diskussion entschieden wir uns gemeinsam mit domino-world für eine in React Native entwickelte, auf Tablets optimierte Android App. Für die Nutzung der App sollten Tablets eingekauft werden, Android Geräte waren in der Anschaffung kostengünstiger und robuster. Durch eine Entwicklung in React Native wurde zusätzlich die Möglichkeit offen gehalten, die App später auch für iOS Devices bereitzustellen. Die Nutzung im Alltag sollte mobil, bei den Patient*innen vor Ort geschehen, daher kam eine Desktop-Version nicht in Frage.
Der Pionier-Charakter des Projekts sorgte für einige Herausforderungen, die wir aber vor allem mit Hilfe der zukünftigen Nutzer*innen der App bewältigen konnten.
Bestehende Infrastruktur evaluieren
Als Agentur für mobile und TV Apps arbeitet Evenly normalerweise mit Unternehmen zusammen, die bereits eine solide Grundlage haben und ihr digitales Portfolio erweitern wollen. Im Fall von domino-world war das anders – die domino-coaching App war das erste Digitalisierungsprojekt des Unternehmens, es waren noch keine digitalen Strukturen vorhanden, auf denen wir aufbauen konnten. Zudem gab es keinen in-house IT Support, also keine dedizierte Person, die vor Ort für das Funktionieren von Infrastruktur verantwortlich war und uns als Ansprechpartner*in für technische Fragen dienen konnte. Hier war unsere Lösung, uns mit den zwei anderen Partnerfirmen, die für domino-world einen Teil des IT Supports und der Infrastruktur übernehmen, eng abzustimmen und domino-world dabei zu beraten, die notwendigen technischen Voraussetzungen mit Hilfe der Partnerfirmen zu schaffen.
Was genau das bedeutete, stellten wir erst in der Konzeptphase der App fest, als wir z.B. davon ausgingen, dass wir die E-Mail-Adressen der Coaches für die Erstellung von Accounts mit individuellem Zugriff auf die benötigten Daten nutzen konnten. Hier stellte sich heraus, dass die Coaches keine eigenen Firmen-E-Mail-Adressen besaßen, diese mussten erst eingerichtet werden.
In der Konzeptphase wurde außerdem angesprochen, dass die Verfügbarkeit von Internet in ambulanten Einrichtungen nicht immer gut war, später stellten wir fest, dass es teilweise gar keine Internetabdeckung gab und das stellenweise auch für stationäre Einrichtungen galt. Aus diesem Grund führten wir in der App später einen Offline-Modus ein. Hätten wir das allerdings direkt am Anfang gewusst, hätten wir den Offline-Modus von Beginn an als integralen Bestandteil der App konzipieren können.
Aus dieser Erfahrung können wir daher empfehlen, zu Beginn eines Projekts nichts als gegeben anzunehmen, sondern eine Evaluation der bestehenden Strukturen durchzuführen, um zu wissen, worauf man aufbauen kann. Das gilt auch für Ansprechpartner*innen. Wenn es niemanden gibt, der diese Rolle offiziell innehat – hat jemand evtl. entsprechende Kompetenzen und könnte in eine koordinierende Rolle hineinwachsen?
Wissen formalisieren
Ein anderes Problem, dem wir relativ früh im Verlauf des Projekts begegnet sind, war fehlendes formalisiertes Wissensmanagement. Der theoretische domino-coaching Prozess war in den Köpfen des Managements, die diesen Prozess entwickelt hatten, verankert, allerdings wich die praktische Umsetzung des Prozesses davon ab. Dies wurde, bis wir mit der Entwicklung der domino-coaching App begannen, nirgendwo dokumentiert.
Ein Beispiel dafür ist die Geriatrische Depressionsskala, ein Formular, das bei der Erstaufnahme von Patient*innen in eine Einrichtung deren Gefühlszustand in den letzten Wochen abfragt. Dabei werden Punkte für bestimmte Antworten zusammengerechnet, ab sechs Punkten ist eine Depression wahrscheinlich und die Patient*innen wechseln vom Standardmodell ins Depressionsmodell. Im Depressionsmodell des Coachings versucht man, erst den Gefühlszustand zu verbessern, bis es mit anderen Therapiemaßnahmen weitergeht.
Manchmal wurden allerdings Patient*innen, die nach Punkten ins Depressionsmodell fallen würden, nach dem Standardmodell behandelt. Der Grund ist, dass erfahrungsgemäß nach dem Einzug in eine stationäre Einrichtung eine kurze Verschlechterung der Stimmung auftritt, die Patient*innen sich aber schnell wieder fangen. Deswegen wissen die Coaches oft schon, dass solche Patient*innen nach dem Standardmodell gecoacht werden können. Dem Management war dieser Umstand nicht bewusst.
Mit dem Papierformular wurde das Problem so gelöst, dass Patient*innen trotz der Punkte einfach nicht ins Depressionsmodell gewechselt sind. In digitaler Form werden die Punkte automatisch zusammengerechnet und der Modellwechsel passiert ebenfalls automatisch. Unsere Lösung war die Einführung eines neuen Abschnitts „Modellwechsel verhindern“, der den ehemals informellen Teil des Prozesses formalisiert und den Coaches mehr offizielle Agency gibt.
Ohne eine frühzeitige Einbeziehung der künftigen Nutzer*innen der App hätten wir eine wichtige Funktion des Papierprozesses nicht ins Digitale übertragen können. Zum Glück konnte in diesem Fall das praktische Wissen im Unternehmen entdeckt und formell festgehalten werden.
Zukünftige Nutzer*innen in die Entwicklung einbeziehen
Dadurch, dass der Impuls, eine App für den domino-coaching Prozess zu bauen, von zwei Coaches kam, waren die zukünftigen Nutzer*innen der App von Beginn an automatisch in den Entwicklungsprozess involviert. Dennoch trafen wir zusätzliche Maßnahmen, um diese Beteiligung aktiv und produktiv zu halten.
Die domino Coaches waren eine relativ diverse Gruppe an Nutzer*innen, mit Personen unterschiedlichen Alters und mit sehr verschiedenen Leveln an Erfahrung und technischem Vorwissen. Einige hatten Erfahrung mit der Arbeit in ambulanten Einrichtungen, manche mit stationären Einrichtungen, einige auch mit beidem. Auch die Aufgaben bzw. der Zugang zu Informationen waren unterschiedlich – die App war sowohl für normale Coaches als auch für Teamleitung und Pflegedienstleitung gedacht, die zusätzlich zu den Coachings Aufgaben der Supervision übernahmen. Je nach Einrichtung wurde der theoretische Coachingprozess teilweise etwas anders in die Praxis umgesetzt, so dass auch hier Abweichungen auftraten.
Da wir nicht mit allen 850 Mitarbeiter*innen sprechen konnten, stellten wir eine repräsentative Pilot-Gruppe mit Coaches, Teamleitung und Pflegedienstleitung aus allen Einrichtungen zusammen.
Mit dieser Pilot-Gruppe machten wir Userbefragungen, gingen durch Testversionen der App und führten überwachte User Testings nach allen größeren Schritten durch.
Angehörige der Pilot-Gruppe holten zusätzlich später Feedback von anderen Coaches in ihrem Team ein.
Auf diese Weise konnten wir die ganze Vielfalt der Coaches abdecken und von verschiedenen Nutzergruppen Feedback einholen.
Veränderung im Unternehmen forcieren und begleiten
Als externer Auftragnehmer ist man oft in der Lage, mit frischen Augen Defizite und neue Chancen im Unternehmen zu erkennen. Außerdem waren wir in der einzigartigen Lage, im Gespräch mit den späteren Nutzer*innen über die App weitergehend zu fragen, was den Nutzer*innen fehlt bzw. helfen könnte, z.B. ein*e zentrale*r Ansprechpartner*in für technische Themen.
Als erste Firma, die ein Digitalisierungsprojekt bei domino-world durchführte, waren wir somit nicht nur für unser eigenes Projekt zuständig, sondern bekamen viele weiterführende Themen auf den Tisch, die teilweise nur am Rande mit der App zusammenhingen. Hier stellten wir schnell fest, dass wir unsere eigene Rolle nicht zu eng auf die App fokussiert sehen, sondern domino-world als Partner mit technischen Kompetenzen zur Seite stehen sollten. Folglich berieten wir z.B. bei der Auswahl und Beschaffung der Tablets, auf denen die App genutzt werden sollte.
Rollout des Produkts schrittweise planen
Als das Rollout der ersten Version der domino-coaching App im Frühjahr 2021 stattfand fragten wir uns:
- Wie sorgen wir dafür, dass sich alle Coaches im neuen digitalen Prozess zurechtfinden?
- Wie minimieren wir Frust, denn die Software ist neu und die Coaches werden auf jeden Fall Bugs finden?
- Wie schaffen wir es, mit begrenzten Ressourcen einer kleinen Agentur die berichteten Bugs zeitnah einzuordnen und zu beheben?
Wir entschieden uns für ein Rollout in mehreren Schritten:
- Zunächst begannen unsere Pilot-Gruppe und deren Teams, die v1 der App für einen Zeitraum von vier Wochen zu nutzen. Da die Pilot-Gruppe am Entwicklungsprozess beteiligt war und die App schon öfter getestet hatte, war ihnen die Nutzung schon zum größten Teil bekannt und wir führten nur noch zur Sicherheit eine kurze Schulung durch. Die Nutzer*innen der v1 meldeten uns direkt Bugs, die ihnen auffielen.
- Nach vier Wochen hatten wir die Bestätigung, dass der Prozess funktioniert und die schlimmsten Bugs ausgemerzt wurden. Die Nutzer*innen waren inzwischen geübt im Umgang mit der App.
- Danach wurden mehr Teams hinzugefügt und Botschafter*innen aus den ersten Teams gingen in neue Teams hinein und schulten diese in der Arbeit mit der App. Feedback wurde durch die Pilot-Gruppe zu uns getragen.
Auf diese Weise stellten wir sicher, dass erste Nutzer*innen-Probleme untereinander geklärt wurden und die berichteten Bugs tatsächlich Bugs und nicht Verständnisprobleme bei der Nutzung waren. Zudem wurden Bugs uns so nicht mehrfach berichtet. Die Coaches wurden dadurch, dass auch sie neue Nutzer*innen schulten, immer sicherer im Umgang mit der App und übernahmen Verantwortung für das Produkt, an dessen Entwicklung und Einführung sie beteiligt waren.
Die Software weiterentwickeln
Software ist ein lebendiges Produkt und muss stetig aktualisiert und weiterentwickelt werden, um nutzbar zu bleiben. Nach dem erfolgreichen Rollout von v1 haben wir daher wie geplant:
- Neben dem Standardmodell für die Behandlung von Patient*innen das Demenz- und Depressionsmodell hinzugefügt
- Diverse Bugs gefixt und das Bugreporting verbessert
- Kleinere Features hinzugefügt (beispielsweise die Diktierfunktion für die App freigegeben) und bestehende Features nach Nutzer*innen-Feedback angepasst.
Wir haben allerdings auch ganz neue Problemfelder entdeckt, mit denen wir zunächst nicht gerechnet hatten.
Nachdem wir festgestellt hatten, wie unzureichend die Internetabdeckung in vielen Einrichtungen war, führten wir einen Offline-Modus in der App ein. Damit ließen sich alle Formulare offline ausfüllen und einreichen, sobald man wieder eine Internetverbindung hatte.
Wir stellten zudem fest, dass die App nicht nur auf den eigens dafür angeschafften Tablets (geteilte Nutzung für mehrere Nutzer*innen), sondern häufig auch auf privaten Smartphones verwendet wurde. Daher verbesserten wir das UI und passten es für kleinere Screens an.
Wir stießen allerdings auch auf Grenzen der Nutzer*innenbeteiligung. Einige Bugs konnten einfach nicht auf unserer Seite reproduziert werden, egal wie gut die Beschreibung war, da sie mit den individuellen Account-Einstellungen zusammenhingen. Um hier besser helfen zu können, entwickelten wir einen Impersonation-Modus, dessen Einsatz nach Einwilligung der jeweiligen Nutzer*innen möglich ist. Hier gibt es einen Account, der nach Freigabe andere Accounts mit allen Einstellungen und Freigaben imitieren und so Bugs nachvollziehen kann, die sonst nicht sichtbar gewesen wären.
Alle diese Features wurden nach dem Einsatz der App und dem Feedback der Nutzer*innen in Zusammenarbeit mit ihnen entwickelt.
Insgesamt ist es wichtig, von Beginn an darauf hinzuweisen, dass Software gewartet und weiterentwickelt werden muss und das Budget entsprechend zu planen.
Inzwischen hat die domino-coaching App v2.5 erreicht und bildet den gesamten domino-coaching Prozess (ausgenommen haptische Übungen für Patient*innen) ab. Alle drei Modelle (Standard-, Depressions- und Demenzmodell) werden in der App behandelt. Wir haben diverse Bugs und Edge Cases korrigiert, die erst in der langfristigen Nutzung aufgefallen sind und auch die Performance immer wieder verbessert.
Auch die Beteiligung der Coaches geht weiter – sie tragen neue Optimierungsvorschläge an uns und die Geschäftsführung heran. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir nicht nur den Papierprozess optimal abbilden, sondern neue Features entwickeln, welche die Papierversion nie hatte. Neue Coaches werden inzwischen mit der App ausgebildet und bekommen die alte Papierversion nicht mehr zu Gesicht.
Das Vertrauen, das sowohl die Geschäftsführung als auch die Coaches in die Nutzer*innen-Beteiligung gesetzt hatten, hat sich bewährt und die Kommunikationskanäle bleiben weiterhin offen.
Grundsätzlich ist es empfehlenswert, die erwähnten Herausforderungen beim Start von Softwareprojekten abzuklopfen und direkt bei der Planung mitzudenken. Wenn man weiß, wie z.B. das Wissensmanagement oder die Infrastruktur in einem Unternehmen aussehen, kann man darauf aufbauen und den geplanten Projektverlauf entsprechend anpassen.